Friedensnobelpreis 1959: Philip John Noel-Baker

Friedensnobelpreis 1959: Philip John Noel-Baker
Friedensnobelpreis 1959: Philip John Noel-Baker
 
Der Sohn einer Quäkerfamilie wurde als entschiedener Befürworter der Abrüstung und für seine jahrzehntelange Friedensarbeit in zahlreichen verschiedenen Institutionen und Positionen ausgezeichnet.
 
 
Philip John Noel-Baker, Baron of the City of Derby (seit 1977), * London 1. 11. 1889, ✝ London 8. 10. 1982; ab 1919 britischer Vertreter auf den Pariser Friedenskonferenzen und beim Völkerbund, 1929-31 und 1936-70 Abgeordneter der Labour Party, 1945-51 Staatssekretär und Minister verschiedener Ressorts, 1946/47 Vorsitzender der Labour Party, 1960-82 leitendes Mitglied des UNESCO-Rats für Sport.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Manche Friedensnobelpreisträger sind zunächst durch bemerkenswerte Leistungen im Krieg aufgefallen, bevor sie sich nach einer Art Kehrtwendung der Sicherung des Weltfriedens und der Völkerverständigung widmeten. Andere kamen wiederum mehr oder weniger zufällig in eine bestimmte Situation, in der sie vorbildliche Friedensarbeit leisteten. Bei ganz wenigen scheint dagegen der Weg zum Friedensnobelpreis gewissermaßen vorgezeichnet, und dazu gehört sicherlich auch der Preisträger des Jahres 1959.
 
Philip John Baker (den Doppelnamen Noel-Baker nahm er erst nach seiner Heirat mit Irene Noel, Tochter eines britischen Großgrundbesitzers, an) wurde gemeinsam mit seinen sechs Geschwistern streng im Geist der Quäker erzogen, einer christlichen Glaubensgemeinschaft, die sich selbst »Religiöse Gesellschaft der Freunde« nennt und unter anderem den Kriegsdienst konsequent ablehnt. 1947 erhielten die Quäker dafür und für ihre humanitäre Hilfe im vom Zweiten Weltkrieg verwüsteten Europa den Friedensnobelpreis.
 
Philip John Baker ist zudem während seiner Laufbahn als Diplomat immer wieder persönlich mit Menschen in Berührung gekommen, die den Friedensnobelpreis bereits erhalten hatten oder später ausgezeichnet werden sollten, etwa mit Fridtjof Nansen (Nobelpreis 1922), Arthur Henderson (1934), Robert Cecil of Chelwood (1937) oder John Boyd Orr (1949). Er arbeitete eng mit ihnen zusammen, wuchs so in eine internationale Gemeinschaft hinein, die sich nach den bitteren Erfahrungen des Ersten und während der anscheinend unaufhaltsamen Entwicklung zum Zweiten Weltkrieg mit großem Idealismus der Völkerverständigung und Friedenssicherung widmete.
 
 Abrüstung ist die beste Verteidigung
 
Vom Osloer Nobelpreiskomitee wurde Philip John Noel-Baker sicherlich mehrmals in die engere Auswahl von Kandidaten genommen, die Auszeichnung erhielt er jedoch erst als 70-Jähriger. Den letzten Anstoß gab ein 1958 (deutsch 1961) erschienenes Buch, in dem Noel-Baker die Ergebnisse seiner Studien über die Abrüstung zusammenfasste, die er seit über 40 Jahren durchgeführt hatte: »Wettlauf der Waffen«. Das Buch, eine von zahlreichen Veröffentlichungen des Autors zum Thema internationale Abrüstung, wurde viel gelesen und diskutiert, vor allem weil es sich dem Thema scheinbar ohne Emotionen näherte, mit wissenschaftlicher Gründlichkeit jeden Aspekt der Abrüstung untersuchte und dann daraus sorgfältig untermauerte Schlussfolgerungen zog. Noel-Baker, wohl der Abrüstungsexperte des 20. Jahrhunderts, weist beispielsweise nach, dass die zahlreichen seit dem Ende des Ersten Weltkriegs unternommenen Versuche zur Beschränkung und zum Abbau der Waffenarsenale scheitern mussten, da es an gegenseitigem Vertrauen und einem wirksamen System zur Kontrolle der Abrüstung mangelte. Folglich sind für ihn Begrenzung und Abbau der militärischen Rüstung auf der einen sowie vertrauensbildende Maßnahmen und Rüstungskontrolle auf der anderen Seite untrennbar miteinander verbunden. Seiner Ansicht nach genügt es auch nicht, die Abrüstung lediglich auf die Kernwaffen zu beschränken, jede Waffe stellt eine Gefahr dar. Wie richtig Noel-Bakers These ist, zeigt eine Ende des 20. Jahrhunderts veröffentlichte Studie, nach der in Kriegen dieses Jahrhunderts mehr als drei Millionen Menschen durch einfache Schusswaffen wie Pistolen oder Gewehre getötet wurden. Unabhängig von der Art der Kriegswaffen gefährdet jede Vergrößerung der Waffenbestände den Frieden, denn sie schürt Ängste bei Nachbarstaaten, veranlasst diese, sich selbst besser gegen Angriffe zu wappnen, und führt so zum »Wettlauf der Waffen«, zur Rüstungsspirale, die früher oder später außer Kontrolle gerät. Das Kriegsrisiko wird demnach nicht durch den Aufbau eines abschreckenden Waffenarsenals, sondern gerade im Gegenteil durch Abrüstung vermindert.
 
 Facetten eines langen Lebens
 
Zwischen dem Jahr, in dem Philip John Noel-Baker sein erstes größeres Werk zum Thema Abrüstung veröffentlichte (1926), und dem Jahr, in dem das letzte erschien (1979), liegen mehr als 50 Jahre. Der Autor hat also einen »langen Atem«, eine bemerkenswerte Beharrlichkeit und Ausdauer bewiesen, Eigenschaften, die er schon früh als erfolgreicher Mittelstreckenläufer bei drei Olympischen Spielen (1912, 1920, 1924) unter Beweis stellte.
 
Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs verweigerte Noel-Baker aus Gewissensgründen den Dienst an der Waffe, gründete jedoch zusammen mit anderen Quäkern einen Sanitätsdienst, der auf Schlachtfeldern in Frankreich und Italien Verwundeten Hilfe leistete.
 
In den Lazaretten tat auch Lord Robert Cecil Dienst, dem Noel-Baker nach Kriegsende auf der Pariser Friedenskonferenz als wichtigster Assistent beim Entwurf der Satzung des Völkerbunds zur Seite stand. Auf der Weltabrüstungskonferenz von 1932/33 war er enger Vertrauter und Mitarbeiter von Arthur Henderson, der die ohne Ergebnis abgebrochene Konferenz als Präsident leitete. Eine besonders enge Freundschaft verband Noel-Baker mit Fridtjof Nansen, der für seine humanitäre Hilfe für Flüchtlinge und Kriegsgefangene in Russland, Griechenland und Kleinasien den Friedensnobelpreis erhielt. Offenbar hatte Nansen ein schlechtes Gewissen, wie er in einem Brief eingestand, weil die Leistung seines Freundes und wichtigsten Mitarbeiters nicht genügend gewürdigt wurde. John Boyd-Orr, ebenfalls Friedensnobelpreisträger, lernte Noel-Baker während der Vorbereitungen zur Gründung der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO kennen.
 
Mit dem gleichen Engagement, mit dem er nach dem Ersten Weltkrieg den Völkerbund aufgebaut hatte, beteiligte sich der britische Diplomat und Historiker nach dem Zweiten Weltkrieg am Aufbau der Vereinten Nationen.
 
Nicht zu vergessen sind die Leistungen Noel-Bakers während seiner Amtszeit als Minister und führender Politiker der Labour Party in Großbritannien. Als Minister für Commonwealth-Angelegenheiten war er von 1947 bis 1950 maßgeblich an den Verhandlungen beteiligt, die zur Unabhängigkeit Indiens führten. Im Unterhaus, dem er mit Unterbrechungen von 1929 bis 1970 angehörte, übte er schließlich oft genug heftige Kritik an der Außenpolitik der britischen Regierung, die vor dem Zweiten Weltkrieg dem Nationalsozialismus und dem Faschismus in Deutschland, Spanien oder Italien nicht konsequent entgegentrat und sich in den 1950er-Jahren während des Sues-Konflikts zu einem Angriffskrieg verleiten ließ.
 
P. Göbel

Universal-Lexikon. 2012.

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